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24.09.2014

Bundessozialgericht: Die Frage, wann ein sozialgerichtliches Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat, lässt sich nicht nach "Schema F" beantworten

 

Der 10. Senat des Bundessozialgerichts hat am 3. September 2014 entschieden, dass allein die absolute Dauer eines Gerichtsverfahrens auch nach mehreren Jahren noch nicht zwangsläufig dazu führt, dass ein Bundesland an Kläger Entschädigungen zahlen muss. Hat ein Gerichtsverfahren vor einem Sozialgericht und ggf. dem Landessozialgericht dieses Landes aus Sicht des Rechtsschutzsuchenden zu lange gedauert, muss das für den Entschädigungsanspruch zuständige Landessozialgericht vielmehr in jedem Einzelfall ermitteln, welche Gründe zu dieser Laufzeit geführt haben. In den entschiedenen Fällen ging es um Verfahrensdauern von knapp fünf bis zu knapp acht Jahren. 
 
Nach dem am 3. Dezember 2011 in Kraft getretenen Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren (ÜGG) wird angemessen entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet. Die entscheidende Frage dabei lautet: Wonach bemisst sich, ob ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat? Die Frage lässt sich nicht rein schematisch beantworten ‑ zumal praktisch jeder Fall anders liegt. Zu berücksichtigen sind die Umstände des Einzelfalls und die Verfahrensbearbeitung des "angeblich zu langsamen" Ausgangsgerichts. Bei seiner Prozessleitung verfügt das Ausgangsgericht über einen weiten Gestaltungsspielraum. 
 
Der Staat muss im Hinblick auf begrenzte Haushaltsmittel einerseits und seine Pflicht, eine leistungsfähige Justiz vorzuhalten andererseits, bei der personellen Ausstattung von Gerichten darauf achten, dass nicht zu viele, aber auch nicht zu wenige Richter eingestellt werden. Aus Gründen der öffentlichen Personalwirtschaft ist es gerichtsorganisatorisch daher mitunter nicht zu vermeiden, Richtern oder Spruchkörpern einen relativ großen Bestand an Verfahren zuzuweisen. Eine gleichzeitige inhaltlich tiefgehende Bearbeitung sämtlicher Verfahren, die bei einem Gericht anhängig oder einem Spruchkörper bzw. Richter zuge­wiesen sind, ist aus tatsächlichen Gründen nicht möglich und wird von der Verfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention auch nicht verlangt. Die Gerichte sind, da sie nicht alle eingehenden Verfahren gleichzeitig und sofort erledigen können, berechtigt, unter Achtung des Gebots effektiven Rechtsschutzes zu entscheiden, in welcher Reihenfolge sie welche Verfahren bearbeiten und entscheiden. Insoweit hat das Bundessozialgericht den Richtern eine Vorbereitungs- und Bedenkzeit von bis zu zwölf Monaten je Instanz zugestanden. 
 
Zwölf Monate pauschaler Vorbereitungs- und Bedenkzeit sind vorbehaltlich besonderer Umstände des Einzelfalls regelmäßig als angemessen anzusehen, selbst wenn in den betreffenden Zeiträumen keine konkreten Verfahrensförderungsschritte festzustellen sind, die Sache also "liegt". Diese Zeitspanne muss und wird in der Regel nicht vollständig direkt im Anschluss an die Erhebung der Klage bzw. die Einlegung der Berufung liegen, in der das Gericht normalerweise für einen Schriftsatzwechsel sorgt und Entscheidungsunterlagen beizieht. Die Vorbereitungs- und Bedenkzeit kann vielmehr auch am Ende der jeweiligen Instanz liegen und in mehrere, insgesamt zwölf Monate nicht übersteigende Abschnitte unterteilt sein. Angemessen bleibt die Gesamt-Verfahrensdauer regelmäßig auch dann noch, wenn sie zwölf Monate überschreitet, aber insoweit auf vertretbarer aktiver Verfahrensgestaltung des Gerichts beruht oder durch Verhalten des Klägers, anderer Verfahrensbeteiligter oder Dritter verursacht wird, die das Gericht nicht zu vertreten hat. 
 
In der Sache B 10 ÜG 2/13 R hat es das Bundessozialgericht allerdings nicht akzeptiert, dass das Gericht ein Verfahren über die Aufhebung einer Bewilligung von Arbeitslosengeld im Hinblick auf ein anderes Verfahren, bei dem es um die Aufforderung zur Rentenantragstellung ging, über Jahre hinweg ausgesetzt und auch nach Aufhebung des Aussetzungsbeschlusses über lange Zeit ohne erkennbaren Grund keine Aktivitäten zur Beendigung des Verfahrens mehr unternommen hatte. Hier war die Grenze des dem Gericht eingeräumten Spielraums zur Gestaltung des Verfahrens überschritten. Eine etwaige Überlastung der Richter, die möglicherweise einfach wegen vieler anderer, ebenfalls zu erledigender Verfahren nicht dazu kamen, die Sache voranzutreiben, kann nicht verhindern, das Verfahren als unangemessen lang anzusehen. Damit ist kein Schuldvorwurf an die Richter verbunden, bei denen der Tag auch nur 24 Stunden hat. Dieses Risiko trägt vielmehr das Land, das für eine ausreichende Ausstattung der Gerichte zu sorgen hat. 
 
Ebenso hat das Bundessozialgericht in einem weiteren Fall (Aktenzeichen B 10 ÜG 12/13 R) für ein insgesamt fünf Jahre und vier Monate dauerndes Gerichtsverfahren angenommen, dass das Ausgangsgericht seinen Spielraum bei der Verfahrensbearbeitung überschritten habe. Im Ausgangsverfahren klagte eine Polizeibeamter auf Opferentschädigung durch den Staat, weil er angeblich von einem Kollegen mit der Schusswaffe bedroht worden war. Nach Ansicht des Bundessozialgerichts durfte das Ausgangsgericht insoweit nicht ganze zwei Jahre auf die Ermittlungen in einem parallelen Schwerbehindertenverfahren warten, von dem sich das Ausgangsgericht offenbar medizinische Erkenntnisse darüber erhoffte, ob bei dem Polizeibeamten überhaupt eine psychische Schädigung vorliegt. Denn die Frage, ob Opferentschädigung verlangt werden kann, hängt in erster Linie davon ab, ob ein ‑ im Ausgangsverfahren bestrittener ‑ vorsätzlicher, rechtswidriger, tätlicher Angriff des Kollegen stattgefunden hatte, auf Grund dessen beim Kläger möglicherweise psychische Schäden eingetreten waren. Die insoweit erforderlichen Ermittlungsschritte, nämlich die Beiziehung von Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft und des Bundesgrenzschutzpräsidiums sowie von Akten eines Disziplinarverfahrens gegen den Polizeikollegen hat das Ausgangsgericht erst 22 Monate nach Klageerhebung eingeleitet und nach Eingang dieser Akten noch einmal zehn Monate bis zur Abweisung der Klage verstreichen lassen. Das Entschädigungsgericht wird den Fall unter Beachtung dieser Gesichtspunkte neu verhandeln und die Gesamtumstände des Gerichtsverfahrens erneut bewerten müssen. 
 
Im Fall einer "Hartz-IV"-Empfängerin hat das Bundessozialgericht das Urteil des Entschädigungsgerichts aufgehoben (Aktenzeichen B 10 ÜG 9/13 R). Dieses hatte zu Unrecht angenommen, die einer Entschädigungsklage vorgeschaltete Verzögerungsrüge sei zu spät erhoben worden. Bei Gerichtsverfahren (Ausgangsverfahren), die bei Inkrafttreten des ÜGG am 3. Dezember 2011 nach Ansicht des jeweiligen Klägers bereits verzögert waren, musste die für eine Entschädigung erforderliche Verzögerungsrüge gegenüber dem Gericht unverzüglich erhoben werden. Das Bundessozialgericht ist dem Entschädigungsgericht nicht darin gefolgt, dass die Rüge nur dann unverzüglich erhoben ist, wenn sie innerhalb eines Monats nach Inkrafttreten des Gesetzes, also bis spätestens zum 3. Januar 2012 erfolgt ist. Wie bereits der Bundesgerichtshof und der Bundesfinanzhof entschieden haben, ist die Verzögerungsrüge in solchen "Altfällen" unverzüglich erhoben, wenn sie spätestens drei Monate nach Inkrafttreten des Gesetzes erfolgt ist. Das Entschädigungsgericht wird deshalb die Sache erneut verhandeln und entscheiden müssen und zu prüfen haben, ob das Ausgangsverfahren wegen Grundsicherungsleistungen, das von August 2007 bis September 2012 gedauert hatte, unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalls von unangemessener Dauer war.
 
Auch im Fall einer niedergelassenen Ärztin, die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnimmt, hatte das Urteil des Entschädigungsgerichts keinen Bestand (Aktenzeichen B 10 ÜG 2/14 R). Das Ausgangsverfahren, in dem die Klägerin von der Kassenärztlichen Vereinigung Thüringen Fördermaßnahmen in unterversorgten Gebieten verlangte, dauerte in der ersten Instanz von Juli 2008 bis April 2013. Bereits im Juli 2012 hatte die Klägerin Klage auf Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer in Höhe von 4700 Euro erhoben. Das Entschädigungsgericht hat zwar festgestellt, dass das Verfahren vor dem Sozialgericht unangemessen lange gedauert hat, die Klage aber im Übrigen abgewiesen, weil die von der Klägerin erst zweieinhalb Monate nach Inkrafttreten des ÜGG am 15. Februar 2012 erhobene Verzögerungsrüge nicht unverzüglich gewesen sei. ‑ Auch insoweit hat das Bundessozialgericht entschieden, dass die Verzögerungsrüge innerhalb von drei Monaten erhoben werden konnte, und die Sache daher an das Entschädigungsgericht zurückverwiesen. Das Entschädigungsgericht wird deshalb die Sache erneut verhandeln und entscheiden müssen und zu prüfen haben, ob der Klägerin wegen unangemessen langer Dauer des Ausgangsverfahrens eine Entschädigung zu zahlen ist. Das Bundessozialgericht hat dem Entschädigungsgericht dabei mit auf den Weg gegeben, dass auch das eigene Verhalten der Klägerin im Ausgangsverfahren, die eine Vielzahl solcher Verfahren gegen die Kassenärztliche Vereinigung wie auch zahlreiche Entschädigungsverfahren betreibt, bei der Würdigung der Gesamtumstände berücksichtigt werden darf und muss. Insbesondere können Kläger nach Ansicht des Bundessozialgerichts keinen entschädigungsrechtlichen Vorteil daraus ziehen, dass eine Vielzahl von Verfahren als Textbausteine ohne nennenswerten Zuschnitt auf das konkrete Verfahren konzipiert sind, oder dass Kläger Anträge stellen, denen das Gericht nachgehen muss, ohne dass dieses Prozessverhalten wesentlich zur Kenntniserlangung oder Verfahrensförderung beiträgt.
 
Der Senat musste in allen Revisionsverfahren einen Streitwert festsetzen. Anders als in herkömmlichen Klageverfahren von Versicherten im Sozialrecht werden für Verfahren wegen überlanger Verfahrensdauer ‑ was viele Kläger nicht wissen ‑ ausnahmslos Kosten nach den Vorschriften des Gerichtskostengesetzes festgesetzt. Wer mit seiner Entschädigungsklage unterliegt, hat danach sowohl streitwertabhängige Gerichtskosten an die Gerichtskasse als auch streitwertabhängige Gebühren an seinen Rechtsanwalt zu zahlen.

 


 
Hinweise zur Rechtslage:
 
§ 198 Gerichtsverfassungsgesetz
 

(1) Wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet, wird angemessen entschädigt. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter.
(2) Ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, wird vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat. Hierfür kann Entschädigung nur beansprucht werden, soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalles Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß Absatz 4 ausreichend ist. Die Entschädigung gemäß Satz 2 beträgt 1 200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung. Ist der Betrag gemäß Satz 3 nach den Umständen des Einzelfalles unbillig, kann das Gericht einen höheren oder niedrigeren Betrag festsetzen.
(3) Entschädigung erhält ein Verfahrensbeteiligter nur, wenn er bei dem mit der Sache befassten Gericht die Dauer des Verfahrens gerügt hat (Verzögerungsrüge). 
(4) Wiedergutmachung auf andere Weise ist insbesondere möglich durch die Feststellung des Entschädigungsgerichts, dass die Verfahrensdauer unangemessen war. Die Feststellung setzt keinen Antrag voraus. Sie kann in schwerwiegenden Fällen neben der Entschädigung ausgesprochen werden; ebenso kann sie ausgesprochen werden, wenn eine oder mehrere Voraussetzungen des Absatzes 3 nicht erfüllt sind.
(5) Eine Klage zur Durchsetzung eines Anspruchs nach Absatz 1 kann frühestens sechs Monate nach Erhebung der Verzögerungsrüge erhoben werden. Die Klage muss spätestens sechs Monate nach Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung, die das Verfahren beendet, oder einer anderen Erledigung des Verfahrens erhoben werden. Bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Klage ist der Anspruch nicht übertragbar.

 

Quelle: Pressemitteilung Nr. 24/14 des Bundessozialgerichts